Zunächst in Bildern, die Unbekümmertheit und Regellosigkeit von Kinderzeichnungen mit der Wucht wieder und wieder hereinbrechender traumatischer Erinnerungen vereinen, später in Texten, die eine Sprache aus dem Innenraum des Traumas wie selbstverständlich finden, hat Gisela Schubert, wie sie sich jetzt (wieder) nennt, ihren Ausdruck gefunden, Äußerungen, die aufwühlen und verstören.
Oft ist es wenn der Tag Kein Ente hat, und hat
er ein Ende, und die Dunkelheit kommt, die Anst,
zu schlafen, weil ein die unendlichkeit keine
Ruhe gibt, weil mann dann immer an das denk
was hast Du Falsch gemacht?
[Orthografie und Zeileneinteilung so im Original – M.M]
„ICH, Gisela Schubert“ – eine Frau, die zu dem Mädchen, das sie war, nicht nur in der Rückkehr zum “Mädchen“-Namen zurückgefunden hat, sondern in den Bildern und Texten noch einmal dieses Mädchen war, das rebellische, das „böse“ Kind, auch das Mädchen, das stärker als den körperlichen Hunger den ungestillten Hunger nach Bildung erlitt, eine Frau, für die ein Leben ohne erneute Bevormundung, ohne Befehle, selbstbestimmt, der höchste Wert ist, höher als ihre Gesundheit:
„ICH“ – es war und bleibt ein langer, mühevoller, verzehrender und auch stets gefährdender und gefährdeter -Weg zu diesem ICH.
Wer diesen in keiner Weise selbstverständlichen Weg aus der Ferne aufmerksam und respektvoll begleitet hat, ahnt, dass dieser Band 1 der edition H nur eine Momentaufnahme ist. Gisela ist mit ungewissem Ausgang weiter auf dem Weg.
Texte und Briefe von Gisela Schubert wurden sprachlich nicht verändert; die Zeileneinteilung wurde übernommen; Orthografie und Zeichensetzung wurden angepasst. Die Großschreibung immer dann, wenn Gisela Schubert von sich selbst spricht, wurde wegen ihrer Bedeutung für den Prozess, den wir beobachten dürfen, beibehalten.
Ich Gisela Schubert
Schmalkalden, kam ins
Kinderheim, vor allem sollte
Ich ein besserer Mensch werden,
Was war Ich denn vorher?
Das erste Lied, was wir
lernten, war das Lied
„Vaterland kein Feind soll
Dich gefährden“, teures
Land was unsere Liebe
trägt. Vaterland, was uns
ernährt, was uns die
Wahrheit lehrt. Ja, Ich glaubte
daran, Ich war ein Kind,
des teuren Landes, der DDR,
Aber als Ich erkannte wie
teuer das Land ist, was
Ich lieben sollte, war es bei
mir, Gisela Schubert, vorbei,
Es war für mich ein Arbeits-
Staat, teuer für die anderen
aber nicht für mich!
Keiner konnte mich zwingen,
dieses Lied noch einmal
zu singen. Dieses Lied
war eine Lüge.
Und mit der Lüge wollten
sie viele Kinder zwingen.
Aber mich nicht.
Da fing mein Leben an,
das teure Land zu hassen,
Du warst ein teurer Mensch
wenn Du mit gelogen
hast. Ansonsten warst Du
ein Sandkorn in einem großen
Sack, den man auf und
zu machen konnte,
Ich, Gisela Schubert, kann mir selbst nicht verzeihen, dass Ich so wenig getan habe, um so viele Kinder aufzuhetzen, gegen
die Erzieher. Ja, Ich bin weggelaufen, aber die
Erinnerungen, lassen mir keine Ruhe, oft machen die Vor-
würfe mich zu einem Menschen, [der] auch Schuld hat. Als
Ich das Lager Buchenwald gesehen habe, hätte ich noch mehr
kämpfen müssen, Ich habe es versucht, aber [an dem] Ort war Ich alleine.
Was konnte Ich sagen, welchen Menschen konnte Ich,
Gisela Schubert, fragen, hätte Ich überhaupt eine Frage beantwortet
bekommen? Ich lerne schnell, aber Angst hatte Ich nicht
vor den Folgen. Was mir, Gisela Schubert, angetan
wurde, wollte Ich oft anderen Kinder ersparen, deswegen:
komm wir laufen weg, aber das Einholen der Anderen
war schlimmer, und Strafen. Aber Ich weiß, dass Ich auch
ein Kind war, der Staat nahm mir auch die Kindheit,
Es geht keiner lautlos unter, wenn man ihn nicht
zum Schweigen bringt. Sie waren alle darüber Zeugen,
es wurde keiner von den Erziehern gezwungen, sie haben alle
ihr Ziel gehabt, und dabei bleibe Ich, Gisela Schubert.
Wenn man mir Gewalt vorwerfen [will], wenn Ich sie erst
gelernt bekommen habe! Was kann man mir vorwerfen?
Niemand hat was gesehen und gehört.
Wieder mal so ein Brief an Dich von der Nacht, wo Ich
nicht schlafen kann. Bringe ihn auch noch in der Nacht
zum Briefkasten.
Oft schreibe Ich Mist.
Ich, Gisela Schubert, nenne das
Heim die Hölle. Keine Zeit [reicht], um zu vergessen,
was man mir da angetan hat! Aber eins
weiß Ich, alle Misshandlungen, war nicht gerade
angebracht, wo Ich, Gisela Schubert, stundenlang stehen
musste in [der] Turnhalle, [im] Duschraum,
der Vergewaltigungs-Ort. Aber Ich wünsche mir, dass mein Buch auch bald
fertig wird, dann kann auch Ich mit der
Sache abschließen, aber Ich versuche es, so
viel wie möglich zu schreiben, Aber meine
Krankheit lähmt mich oft, und
meine Handschrift lässt auch vieles sprechen.
Ich, Gisela Schubert, habe mein Ziel als Kind nicht erreicht.
Weil mir keiner eine Chance gegeben hat, mit Leuten zu
sprechen. Wer hätte mir denn geglaubt?