Heimerziehung in der DDR in Selbstzeugnissen

edition H

Anordnung der Heimerziehung – der bürokratische Akt entscheidet mit seiner lapidaren Formulierung über das weitere Leben der/des Minderjährigen. Für die meisten vergehen Jahrzehnte, bis Erinnerungen an die auf die Anordnung folgenden Jahre erzählt werden können. Der Herausgeber hat diesen Vorgang über viele Jahre und in vielen Fällen begleitet.

Die edition H ist die Auswahl außergewöhnlicher Mitteilungen. Sie vertraut aus intimer Kenntnis heraus der Situation, in der die Texte, Bilder, Briefe entstanden. Der Ton dieser, in ihrer Qualität seltenen, Selbstzeugnisse ist der einer völlig unpathetischen Nüchternheit und einer ganz eigenen Kraft. Es sind Wegmarken eines emanzipatorischen Prozesses.

Dieser Kostbarkeit sollte zwingend die Form der Veröffentlichung entsprechen. Typografie, Satz, Papierauswahl hatten Verantwortung den Funden gegenüber.

Das Vertrauen in die Kraft der Sprache verlangt in Lektorat, Kommentar und Interpretation größtmögliche Zurückhaltung.

Das gilt auch für die „andere Seite“: Akten, Archivfunde teilen sich überdeutlich in ihrer Sprache mit.

Ich; Gisela Schubert

Zunächst in Bildern, die Unbekümmertheit und Regellosigkeit von Kinderzeich-nungen mit der Wucht wieder und wieder hereinbrechender traumatischer Erinnerungen vereinen, später in Texten, die eine Sprache aus dem Innenraum des Traumas wie selbstverständlich finden, hat Gisela Schubert, wie sie sich jetzt (wieder) nennt, ihren Ausdruck gefunden, Äußerungen, die aufwühlen und verstören.

Wie geht es Dir, mir geht es gut

62 Briefe sind erhalten geblieben, die Alexander Matzke an seine Mutter Gisela schrieb. Einige wenige aus einer durch die Erkrankung der Mutter bedingten Trennung, die anderen aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld, aus dem Spezial-Kinderheim Wenigenlupnitz und aus dem Jugendwerkhof Wittenberg.

Da oben, auf dieser Burg

123 handgeschriebene Seiten sind es – vorläufig – geworden. E.B. wollte der Stadtverwaltung Heldburg mitteilen, was sie als Kind im Sonderschulheim Veste Heldburg (heute Deutsches Burgenzentrum) erdulden musste.

Materialien / Quellenpublikationen

Es ist die Sprache der „anderen Seite“, in der das Gegenüber von Heimkindern, Erzieherinnen, Erzieher, Menschen aus dem System der Jugendhilfe ihre Aufzeichnungen verfassen. Der Originalton lässt den begrenzten Artikulations-, Wahrnehmungs- und Handlungsraum deutlich werden.

Materialien I: Kontrolle – keine Vorkommnisse

Keine Vorkommnisse: o. V. manchmal auch k. V. sind die ökonomischen Kürzel eines Rasters, das sich bleischwer über die Tage legte, die Kinder und Jugendliche in den Arrestzellen des Durchgangsheimes Schmiedefeld verbrachten.

Materialien II: Geduscht Delitexbehandelt Eingekleidet Isoliert

Jahresarbeitspläne des Durchgangsheimes gestatten es, das Bestimmung, Denken und Handeln des Durchgangsheimes und seines Personals innerhalb eines rigiden Umerziehungssystems zu begreifen, das Korsetthafte wahrzunehmen, das Vorstellungsräume für Menschliches auf ein unerträgliches Maß einzwängte und dies für alle handelnden Personen – für die Kinder und Jugendlichen ganz klar, aber wohl auch für Erzieherinnen und Erzieher.

Stimmen – weiße Reihe

In deutlich kürzeren Texten als in der Hauptreihe manifestiert sich die Zwangsläufigkeit, auf einen nicht wiederholbaren Moment der Wiederbegegnung mit Passagen des eigenen Lebens zu reagieren: Der unwiderstehliche Impuls, sich zu erklären, jetzt.

Leise schreien

Die Autorin hat in Texten und Gedichten ihre Sprache gefunden, für das was ihr geschehen ist. Es ist, wie auch der Band B von Simone Piorek die andere Sicht auf die Isolierung. Sie bestätigt die in Arrest- und Isolierbuch (vgl. Materialien I und II) spürbare Kälte und spricht gleichzeitig den Gegenentwurf aus. Diese Sicht ist die Stimme gegen die Formel.

Mein Leben und ich

Der Text von Kerstin Kratzenberger ist ein Dokument des Scheiterns des für sie zuständigen Referates Jugendhilfe/Heimerziehung. Gewalttätigkeiten und sexuelle Übergriffe führen zu keinem dauerhaften Schutz; nach Heimaufenthalten wird immer wieder die Rückkehr in die Familie angeordnet.

Republikflucht im schweren Fall

Auch für die Autorin dieses Bandes wird das Durchgangsheim Schmiedefeld zur entscheidenden Erfahrung von Ohnmacht und Entwürdigung. Mit ihrem Freund wird sie unter dem Vorwurf, illegal die DDR verlassen zu wollen, aufgegriffen und von der Polizei nach Schmiedefeld gebracht.