62 Briefe sind erhalten geblieben, die Alexander Matzke an seine Mutter Gisela schrieb. Einige wenige aus einer durch die Erkrankung der Mutter bedingten Trennung, die anderen aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld, aus dem Spezial-Kinderheim Wenigenlupnitz und aus dem Jugendwerkhof Wittenberg.
in einem seiner Briefe aus dem Durchgangsheim Schmiedefeld, der ersten Station in seiner Heimbiografie, wo er zweieinhalb Monate verbrachte: „Schreiben darf [ich] nur am Wochenende, 3 Briefe.“
Über das Lesen der Briefe von „draußen“ wissen wir so gut wie nichts. Der Besitz persönlicher Dinge war auf ein äußerstes Minimum beschränkt. Briefe der Mütter, der Geschwister, der Freundin oder des Freundes ins Heim sind in den meisten Fällen nicht erhalten.
Alexander Matzke lebte bis zu seinem Tod im Sommer 2018 als Selbständiger in der Schweiz; Gisela Matzke – früher Fernseh- und Rundfunkjournalistin, bis heute Moderatorin, Autorin – lebt in Thüringen. Sie hat den Briefen Alexanders fünf literarische Miniaturen beigegeben, in denen sie Erlebnisse aus der durch die Jugendhilfe angeordneten Trennung von Sohn und Mutter berichtet.
In einem Gespräch sagte Gisela Matzke: „Niemand hat sich für mein Kind interessiert, als Alexander weg war. Niemand hat nach ihm gefragt.“ – diese unheimliche Übereinkunft derjenigen, die froh waren, dass der Störenfried, „weg war“.
62 Briefe: beim Lesen müssen wir die Situation, in der die Briefe entstanden sind, im Kopf haben. Wir müssen zwischen den Zeilen lesen. Wir müssen uns durch die Einförmigkeit quälen, Wiederholungen als Indiz für Sprachlosigkeit hinnehmen, um die Verarmung der Kommunikation zwischen Sohn und Mutter auch sinnlich wenigstens ansatzweise erfassen zu können.
DURCHGANGSHEIM SCHMIEDEFELD
27.04.83
Liebe Mutti!
Herzlichen Glückwunsch zu Deinem 48. Geburtstag.
Bis zu Deinem Geburtstag hättest Du mich noch in Salzungen lassen können.
Du kannst schreiben, wann und wieviel Du willst.
Bitte gebe meine Adresse auch der S. oder wer
sie noch verlangt.
Ich habe meine Fehler eingesehen und habe
geweint.
Bitte sag der Jugendhilfe, dass ich nicht schreibe.
Könntest Du es nicht noch mal mit mir versuchen,
da ich meine Fehler eingesehen habe. Ich würde
Dir in allen
Dingen, die anfallen, helfen, wie es nur geht, in
der Schule
bessere Leitungen erzielen, nicht mehr mit B. um-
hertappen und mich so ordentlich benehmen,
dass keine Klagen über mich kommen.
Essen ist gut und ausreichend. Schreiben darf
ich nur am Wochenende, 3 Briefe.
Wir müssen hier so Teile für Steckdosen
schrauben
wird zwar bezahlt, ist aber eine elende Arbeit
Bitte rufe Johanna und Burkhard an, sie möchten
mir bitte auch mal schreiben. Oma und Opa auch.
Schreibe mir bitte, wann die „Goldene Hochzeit“ von den
Großeltern ist, ich möchte dabeisein, wenn es geht von hier aus.
– Rauchen verboten
+ schreibe so bald wie möglich! Bitte!!!
Tschüß
Dein
Alex
DURCHGANGSHEIM SCHMIEDEFELD
28.5.83
Liebe Mutti!
Ich habe Deinen Brief erhalten und möchte
ihn heute beantworten.
Was Du geschrieben hast nehme ich voll
zur Kenntnis, aber ich kann nicht innerhalb
von ein paar Wochen über meinen
eigenen Schatten springen und mich blitzartig
ändern. Auch mich kostet es viel Kraft
nicht bei Dir sein zu dürfen (können).
Größere Probleme gibt es hier nicht.
Beim Schrauben habe ich eine ganz schön
lange Zeit meine Norm nicht erfüllt und
mußte nachschrauben.
Jetzt schaffe ich sie mit 100-200 Stück
mehr.
Tschüß
Dein
Alexander
JUGENDWERKHOF WITTENBERG
[01.04.1986]
Liebe Mutti !
Heute, Dienstag (1. April) bin ich
endlich nach 12 Tagen wieder
aus der Zelle raus.
Ich hatte aber auch genügend
Zeit über mein vergangenes Leben
und die Fehler die ich in
ihm gemacht habe, nachzudenken.
Es war eine sehr harte, aber
die beste und einzig richtige
Lehre, die es in der Situation gab.
Man hätte es aber meiner
Meinung nach früher tun
sollen, dann wäre mir sicher
eher geholfen gewesen.
Wie geht es Dir?
Hat man Dir nicht mitgeteilt,
dass ich 12 Tage in der Zelle
war (bin)
Es scheint nicht so, denn
sonst wäre J. ja wohl
kaum hergekommen.
Ich nehme an, Ihr habt einen mächtigen Zappen (böse) auf mich.
So das wär’s erst einmal,
Tschüß Dein
Alexander
Dankeschön für das liebe Päckchen